Die gute Herstellungspraxis

 

 

Anspruch und Wirklichkeit rechtsstaatlicher Begriffsklarheit und Widerspruchsfreiheit

 

A. Einleitung

 

Begriffsklarheit undWiderspruchsfreiheit sind über dasVerfassungsrecht hinaus die maßgebenden Kriterien einer rationalen Rechtsfindung, auch im Lebensmittelrecht. Ich sehe deshalb meinen Vortrag auch als Möglichkeit, vor diesem engagierten Expertenkreis des Lebensmittelrechts ein klein wenig über diese Begriffe zu resümieren. Die Vorbereitung des Vortrags hat mir allerdings auch deutlich gemacht, dass im Lebensmittelrecht bei Begriffsklarheit und Widerspruchsfreiheit durchaus Defizite vorliegen. Mein Vortrag besteht deshalb nicht aus Schmeicheleien, zumal ich dem Thema dieser Veranstaltung entsprechend den Prüfstand zu bedienen, also die Probleme auch überspitzt darzustellen habe und deshalb eine auf die Reputation des Gesetzgebers bedachte Sichtweise des traditionellen Kommentators verlassen muss. Ich erlaube mir deshalb, schon vorab um Entschuldigung für despektierliche Äußerungen zu bitten.

 

Das Lebensmittelrecht ist eine reizvolle Materie,weil es vielfach mit wenigstens zwei wissenschaftlichen Bereichen zu tun hat, wobei allerdings die Rechtswissenschaft immer beteiligt ist. Je nach der Aufgabenstellung kommen Lebensmittelchemie, Veterinärwesen, Ernährungswissenschaft und allgemeine Medizin, aber auch betriebs und volkswirtschaftliche Gesichtspunkte hinzu.

 

Die rechtswissenschaftliche Tiefe des Lebensmittelrechts ist allerdings bescheiden. Das hat zur Folge, dass die wenigen, rechtswissenschaftlich interessanten Probleme mit großem literarischen Aufwand diskutiert werden. Aber auch die Gerichte stehen dabei nicht zurück, und es ist deshalb nicht verwunderlich, dass manche Entscheidung lehrbuchartig umfangreich ist und kaum der von meinem seinerzeitigem Repetitor Atzler streng betonten Beschränkung auf entscheidungserhebliche Ausführungen entspricht.

 

Das gilt ganz besonders für die Abgrenzung der Begriffe Lebensmittel und Arzneimittel, der ich mich deshalb als erstes zuwenden will. Zuvor sind allerdings einige vorläufige Worte zu der Bedeutung von Begriffsklarheit und Widerspruchsfreiheit erforderlich. Denn Überlegungen zu Anspruch und Wirklichkeit rechtsstaatlicher Begriffsklarheit und Widerspruchsfreiheit setzen voraus zu klären, worin Begriffsklarheit und Widerspruchsfreiheit bestehen. Ohne diese Klärung ist ein Anspruch nicht denkbar. Ich kann dies hier jedoch nur skizzieren.

 

 Begriffe sind die sprachliche Erfassung empirischer und gedanklicherVorstellungen.

Der Satz, ich mache mir einen Begriff von etwas, verdeutlicht dies. Da Begriffe und

andere Worte das Werkzeug sprachlicher Kommunikation sind, setzt diese sprachlicheVerständigung

imWesentlichen übereinstimmendeVorstellungen über den Inhalt

der verwendeten Begriffe–und anderer Worte–voraus. Begriffsklarheit ist mithin–-

dem Recht weit vorgelagert–die Basis der sprachlichen Verständigung. Und da die

sprachliche Verständigung eines der wesentlichen Merkmale ist, das den Menschen

vom Tier unterscheidet, ist auch die Begriffsklarheit ein wesentliches Element der

Besonderheit des Menschen.

Diese Basis bedarf allerdings, um die Vielfalt des Lebens zu erfassen, zusätzlich

eines Verfahrens, mit dem die Begriffe und anderen Worte verknüpft werden. Mit

diesemVerfahren haben sich die größten Geister der Menschheit beschäftigt, und es

ist auch Gegenstand unseres ständigen Sprachgebrauchs, wenn wir zum Beispiel

etwas als unlogisch oder als irrational bezeichnen. Ob es ausreicht, die Anforderungen

an dieVerknüpfung von Begriffen und anderenWorten auf das Erfordernis der

Widerspruchsfreiheit zu beschränken, soll hier nicht erörtert werden. Die Sprachphilosophie,

deren moderne Ausrichtung bemerkenswerterweise von einem Mathematiker

begründet wurde, versuchte und versucht auch noch heute, die Sprache in

logizistische Strukturen zu pressen und damit auch nebenbei uns Juristen durch

Automaten zu ersetzen. Es darf sicher, nicht nur aus dem Eigeninteresse des Juristen,

bezweifelt werden, dass dies gelingt. Festzuhalten ist jedoch, dass die Widerspruchsfreiheit

in der sprachlichenVerständigung eine grundlegendeVoraussetzung

für rationales Handeln in Gemeinschaften ist und tröstlich ist auch, dass sich die

Sprachphilosophie zwischenzeitlich wieder in eine Philosophie des Geistes verwandelt

hat.

Die Bedeutung derWiderspruchsfreiheit für die Kommunikation geht allerdings weit

über die sprachlicheVerständigung hinaus, sie reicht bis in die Tierwelt hinein.Wenn

ich die Hundeleine in die Hand nehme, dann entnimmt der Hund meiner Frau daraus,

dass ich mit ihm spazieren gehe. Lege ich die Leine dann wieder weg, sieht er das als

höchst widersprüchlich an, und sein Vertrauen in mein Verhalten ist erschüttert.

Widerspruchsfreiheit ist mithin nicht nur eine grundlegende Voraussetzung der

sprachlichen Verständigung, sondern auch des Vertrauens und dies betrifft dann

zwangsläufig auch die Rechtsfindung.

Ich gehe noch einen Schritt weiter: Geht man zur Begründung der Geltung des Rechts

nicht von göttlichem Recht oder einem übergeordnetem Naturrecht aus, bleibt als

überzeugender Geltungsgrund eine übereinstimmende Anerkennung von gewachsenen

Prinzipien und Strukturen der Rechtsordnung, die Klarheit der sprachlichenVerständigung

(= Begriffsklarheit) und widerspruchsfreies Verhalten (= Widerspruchsfreiheit)

voraussetzen.

Begriffsklarheit undWiderspruchsfreiheit sind jedenfalls die grundlegenden Kategorien

rationalerVerständigung der Menschen und damit auch der Rechtsfindung.

Begriffe haben allerdings im Laufe der intellektuellen Entwicklung des Menschen oft

ein Eigenleben gewonnen, das bei uns Juristen schließlich zu der zwischenzeitlich als

Schimpfwort verwendeten Begriffsjuristerei geführt hat. Sie bestand darin, den

Begriff zu verselbstständigen, also von seiner Herkunft aus tatsächlichen oder

gedanklichenVorstellungen zu lösen und deduktiv aus dem Begriff Anweisungen für

tatsächliches Verhalten abzuleiten. Das hat zwangsläufig zur Folge, dass dann

Begriffe zur Beurteilung von Sachverhalten verwendet werden, denen sie nach ihrer

Herkunft und nach ihrer rechtlichen Aufgabenstellung nicht oder nur wenig entsprechen.

Begriffsklarheit setzt mithin voraus, dem Begriff einen Inhalt zu geben, der seiner

Herkunft aus bestimmtenVorstellungen entspricht.

Nun gibt es allerdings die Möglichkeit, die Verwendung eines Begriffes bei der

Rechtsanwendung dadurch zu erleichtern, dass sein Inhalt fixiert, dass er also definiert

wird. Damit scheint demjenigen, der den Begriff bei der Rechtsanwendung verwendet,

die Mühe seiner inhaltlichen Bestimmung abgenommen zu sein. Ob das der

Fall ist, will ich hier offen lassen. Zunächst ist nur festzustellen, dass sich der

Anspruch an Begriffsklarheit bei Definitionen an denjenigen richtet, der die Definition

vornimmt. Und das ist bei gesetzlichen Definitionen der Gesetzgeber. Mit seinen

Werken will ich mich zunächst befassen und dabei, dem Thema dieserVeranstaltung

entsprechend, das neue Lebensmittelrecht auf den Prüfstand stellen; das kann selbstverständlich

nur punktuell geschehen.

B. Der Lebensmittelbegriff

Ich beginne, wie schon gesagt, mit dem grundlegenden Begriff des Lebensmittelrechts,

nämlich dem Begriff Lebensmittel. Er ist bekanntlich in Art. 2 derVerordnung

(EG) 178/3002 bestimmt. Ich darf in diesem illustren Kreis unterstellen, dass diese

Definition allgemein bekannt ist. Ich will sie trotzdem zum besseren Verständnis

gekürzt zitieren; Lebensmittel sind nach Art. 2 derVerordnung (EG) 178/2002 Stoffe

oder Erzeugnisse, die dazu bestimmt sind, dass sie vom Menschen aufgenommen werden.

Wie fast jede gesetzliche Definition besteht auch diese Begriffsbestimmung der

Lebensmittel aus einer Verknüpfung anderer Begriffe, die teilweise anderweit definiert,

teilweise aber dem allgemeinen Sprachgebrauch entnommen sind. Ich will mich

hier nur mit dem Begriff aufgenommen befassen. Er ist nicht anderweit definiert, sondern

offensichtlich aus dem allgemeinen Sprachgebrauch übernommen. Obgleich ein

Begriff oder einWort aus dem allgemeinen Sprachgebrauch durch Aufnahme in eine

gesetzliche Definition zu einem Rechtsbegriff wird und damit einen eigenen rechtlichen

Inhalt erhält, liegt es doch nahe, bei der Ermittlung seiner inhaltlichen Bedeutung

zumindest vorläufig dem allgemeinen Sprachgebrauch zu folgen.

Dazu allerdings eine kurze Anmerkung, die im Lebensmittelrecht der Verwendung

naturwissenschaftlicher Begriffe geschuldet ist. Auch für diese Begriffe gilt, dass sie

mit Aufnahme in einen gesetzlichen Tatbestand ihre naturwissenschaftliche

Unschuld verlieren und damit auch nicht mehr rein naturwissenschaftlichem Verständnis

zurVerfügung stehen. Sie sind eingespannt in juristische Kriterien, die es im

Extremfall ermöglichen, den ursprünglichen naturwissenschaftlichen Inhalt praktisch

auf den Kopf zu stellen,wenn dies nach dem Zweck derVorschrift oder allgemeinen

rechtlichen Gesichtspunkten erforderlich ist. Dies zu berücksichtigen, ist

auch ein Erfordernis der juristischen Begriffsklarheit.

Nun aber zurück zu dem Begriff vom Menschen aufgenommen.Er besagt nach seinem

Sinnzusammenhang, dass alle Stoffe, die der Mensch seinem Körper zuführt, aufgenommen

werden.

Zumindest für den unbefangenen Leser der Definition ist es dann allerdings verblüffend,

dass in dem zweiten Absatz dieser Definition des Art. 2 der Verordnung (EG)

178/2002 Getränke den Lebensmitteln gleichgestellt werden, obgleich sie nach allgemeinem

Sprachgebrauch gleichfalls vom Menschen aufgenommen werden. Daraus

müsste an sich der logische Schluss gezogen werden, dass aufnehmen im Sinne des

ersten Absatzes nicht in einem umfassenden Sinn zu verstehen ist.Wir wissen alle,

dass diesem logischen Schluss nicht gefolgt werden kann. Es bleibt mithin nur festzustellen,

dass die Gleichstellung der Getränke–und auch von Kaugummi–in dem

zweiten Absatz keineswegs den Anforderungen an Begriffsklarheit entspricht.

Ich kann nun selbstverständlich nicht alle problematischen Aspekte des Lebensmittelbegriffs

hier behandeln. Unser aller Lieblingsthema, nämlich die Abgrenzung von

Lebensmitteln und Arzneimitteln, muss aber doch in diesenVortrag einbezogen werden.

An sich ist diese Abgrenzung eindeutig formuliert. Denn gemäß Abs. 3 des Art. 2 der

Verordnung (EG) 178/2002 gehörenArzneimittel nicht zu den Lebensmitteln.Da Arzneimittel

gleichfalls gemeinschaftsrechtlich definiert sind, erscheint die Abgrenzung

begrifflich klar.

Das war auch die Auffassung des OLG Hamburg in einer Entscheidung vom 05. 02.

19981

1 LMRR 1998, 64 (3 U 187/97).

; es führte aus, über den Begriff Arzneimittel könnte ernsthaft keine Unklarheit

bestehen, deswegen sei auch ganz überwiegend die Einordnung von Präparaten als

Arzneimittel eindeutig.

Anderer Ansicht war aber offensichtlich derselbe Gemeinschaftsgesetzgeber, der

diese nach ihremWortlaut und Sinngehalt eindeutige Abgrenzung vorgenommen hat.

Er kam, wie wir hier alle wissen, nachträglich auf den Gedanken, diese Abgrenzung

durch eine sogenannte Zweifelsregelung zu ergänzen. Sie befindet sich in Art. 2 Abs. 2

der Richtlinie 2001/83/EG und lautet sinngemäß, dass ein Erzeugnis Arzneimittel ist,

wenn es sowohl unter die Definition derArzneimittel als auch unter eine andere Definition,

hier die Definition für Lebensmittel fallen kann.

In das Thema diesesVortrags übersetzt ist die Zweifelsregelung nichts anderes als ein

Torpedo gegen die Begriffsklarheit, nämlich die Klarheit der Begriffe Lebensmittel

und Arzneimittel.

Was haben nun die Gerichte bisher mit dieser Zweifelsregelung angefangen? Konnten

sie die Zweifelsregelung zur Klärung der Begriffe nutzen oder ist dadurch eine noch

größere Begriffsverwirrung eingetreten?

Ich werde hier selbstverständlich nur wenige Entscheidungen herausgreifen und

beginne mit den beiden Entscheidungen des OVG Münster vom 17. 3. 20062

2 ZLR 2006, 302–„Lactobact Omni FOS“ und ZLR 2006, 339–„OPC“ = LMRR 2006, 13 und 14 (13 A 1977/02

und 3 A 2095/02) = LRE 53, 63 und 52, 97.

, die sich

schon durch ihre lehrbuchartige Ausführlichkeit auszeichnen.

Ausgangspunkt ist in beiden Entscheidungen die Frage, was unter pharmakologischen

Wirkungen, das hier maßgebliche Begriffsmerkmal des gemeinschaftsrechtlichen

Arzneimittelbegriffs, zu verstehen ist. Dieser Begriff ist jedoch nach Auffassung

des Gerichts ein untaugliches Kriterium zur Abgrenzung zwischen Lebensmitteln

und Arzneimitteln, weil er auf eine Zirkeldefinition bzw. einen Zirkelschluss hinauslaufe.

Das entspricht wohl der fast allgemeinen Ansicht in der deutschen Rechtspre-

chung und Literatur und ich vermute, dass lediglich die Beamten der Kommission als

Gesetzgeber einen geheimnisvollen Zugang zumVerständnis dieses Begriffes haben.

Das OVG Münster ließ deshalb diesen Begriff beiseite und führte in den Urteilsgründen

aus, die Einordnung eines als Nahrungsergänzungsmittel aufgemachten Lebensmittels

sei vor allem an dem Vorliegen eines therapeutischen Zwecks festzumachen.

Ein solcher Zweck sei dann gegeben, wenn ein in einem Produkt enthaltener Stoff

oder eine Stoffzusammensetzung nach dem aktuellen Stand derWissenschaft geeignet

sein könne, eineVerhütung, Heilung oder Linderung bestimmter Krankheiten zu

erreichen, ferner dann,wenn mit dem Stoff oder der Stoffzusammensetzung entweder

im Wege der Veränderung der normalen physiologischen Funktionen ein sonstiger

Nutzen oderVorteil erzielt oder eine medizinische Diagnose erstellt werden kann.

Damit musste das Gericht bei der Zweifelsregelung landen. Denn der Begriff therapeutischer

Zweck ist für sich ebenso wenig konkretisierbar wie der Begriff der pharmakologischen

Wirkung. Und die übrigen vom Gericht angesprochenen Kriterien

führen letztlich auch nicht viel weiter. Das Gericht bezeichnete deshalb auch die

Zweifelsregelung als den allein maßgeblichen Prüfungspunkt, weil ein Erzeugnis

angesichts der weiten Lebensmitteldefinition regelmäßig die Voraussetzungen eines

Lebensmittels erfülle und damit die Zweifelsregelung auslöse.

Bemerkenswert ist nun allerdings, dass die Zweifelsregelung von dem Gericht in beiden

Entscheidungen nicht angewandt wurde, weil die Zuordnung der beiden Erzeugnisse

zu den Lebensmitteln keine Zweifel aufwarf. Das ändert allerdings nichts an

dem Genuss, den uns die umfassenden Ausführungen zu der gemeinschaftsrechtlichen

Zweifelsregelung in den beiden Entscheidungen verschafft haben.

Auf die Zweifelsregelung der Richtlinie 2001/83/EG ging auch das OVG Saarlouis3

3 ZLR 2006, 173–„Weihrauchextrakt“ = LMRR 2006, 3 (3 R 7/05) = LRE 52, 123.

ein. Es kam nach einer beeindruckend ausführlichen Erörterung zu dem Ergebnis,

das weihrauchhaltige Produkt, auf das sich die Entscheidung bezog, sei unter

Berücksichtigung aller seiner Merkmale, insbesondere seiner Zusammensetzung, seiner

pharmakologischen Eigenschaften, der Modalitäten seines Gebrauchs, des

Umfangs seiner Verbreitung, seiner Bekanntheit bei den Verbrauchern und der Risiken

nach dem maßgebenden Gemeinschaftsrecht als Funktionsarzneimittel anzusehen.

Hätte der Gesetzgeber der Gemeinschaft die Automatik des Lebensmittelbegriffs

derVerordnung (EG) 178/2002 mit der Zweifelsregelung nicht selbst unterlaufen,

so wäre die anschließende–selbstverständlich ebenfalls ausführliche–Erörterung

der Zweifelsregelung überflüssig gewesen. Oder war sie es ohnedies?

Etwas differenzierter ging das OVG Lüneburg in einer Entscheidung vom 23.03.20064

4 ZLR 2006, 721–„Red Rice II“ = LMRR 2006, 12 (11 LC 180/05) = LRE 53, 273.

auf die Divergenz zwischen Lebensmittelbegriff und Arzneimittelbegriff ein. Es

stellt zunächst fest, das zu beurteilende Erzeugnis, nämlich als Nahrungsergänzungsmittel

angebotene Kapseln mit rotfermentiertem Reis, falle sowohl unter den Lebensmittelbegriff

des § 2 LFGB als auch unter die Definition des Arzneimittels. Ausgehend

von dem Vorrang des Arzneimittelbegriffes erörtert das Gericht, auch unter

Bezugnahme auf die Rechtsprechung des EuGH, ob eine pharmakologischeWirkung

zu bejahen ist. Es bewegt sich bei dieser Erörterung dann über die Frage, ob das Produkt

primär einen therapeutischen Zweck erfüllen kann, dem Erfordernis zusätzlicher

Kriterien für das Vorliegen einer pharmakologischen Wirkung, bis hin zur

gesundheitlichen Betrachtung und einer Berücksichtigung anderer Eigenschaften als

der pharmakologischenWirkungen. Ich will das nicht kritisieren, aber doch festhalten,

dass offensichtlich eine gewaltige juristische Akrobatik erforderlich ist, um die

gemeinschaftsrechtlichen Definitionen für Lebensmittel und Arzneimittel in ein

halbwegs widerspruchsfreies Gefüge einzuordnen.

Wohin diese Akrobatik führen kann, zeigt dann folgender Satz in der Entscheidung

des OVG Lüneburg: Nach alledem ist davon auszugehen, dass die Zweifelsregelung

die Einstufung von Grenzprodukten durch die Behörden wesentlich erleichtern soll,

so dass ihre Anwendung nicht die positive Feststellung der Arzneimitteleigenschaft

erfordert. Das ist nach meiner Auffassung aus zwei Gründen ganz einfach verfehlt:

– selbstverständlich ist eine positive Feststellung der Arzneimitteleigenschaft erforderlich,

zumal andernfalls die Zweifelsregelung gar nicht anwendbar ist;

– noch misslicher ist die Meinung des Gerichts, die Zweifelsregelung diene einer

Erleichterung der Behörden, weil damit der Eindruck erweckt wird, es bestünde

ein gerichtlich nicht nachprüfbarer Beurteilungsspielraum der Behörden. Eine solche

Auffassung wäre nachdrücklich abzulehnen und wird schließlich auch durch

das Gericht selbst widerlegt, weil es umfassend prüft, ob das Erzeugnis wegen

pharmakologischeWirkungen ein Arzneimittel oder ein Lebensmittel ist

Nach meinem Verständnis verschärft das Gericht mit seiner Auffassung die Unklarheit

des Begriffes pharmakologischeWirkung und seiner Anwendung in der Rechtsfindung

erheblich und bewirkt damit genau das Gegenteil des Zwecks der Zweifelsregelung,

eineAbgrenzung zwischen Lebensmitteln und Arzneimitteln zu erleichtern.

Ich will aber, um nicht nur selbst Kritik zu üben, sondern mich auch Ihrer Kritik zu

stellen, meine eigenen Vorstellungen von einer Anwendung der Zweifelsregelung

skizzieren:

Ausgangspunkt ist das Begriffsmerkmal der pharmakologischer Wirkung in dem

gemeinschaftsrechtlichen Arzneimittelbegriff, das ja wohl uns allen erheblichen

Kummer gemacht hat. Ich meine, dass die Anwendung der Zweifelsregelung auf diesen

Begriff (und gegebenenfalls die Begriffe immunologische und metabolischeWirkungen)

beschränkt werden sollte. Das stimmt zwar mit demWortlaut der Zweifels-

regelung nicht überein, weil sie sich auf die gesamte Definition der Arzneimittel und

der Lebensmittel bezieht.Da jedoch der eindeutigeWortlaut des Lebensmittelbegriffs

den Gesetzgeber nicht daran gehindert hat, eine Zweifelsregelung hinzuzufügen,

erscheint es mir durchaus vertretbar, abweichend vom Wortlaut diese Zweifelsregelung

nur auf den Begriff pharmakologischeWirkung (und evtl. auch immunologische

und metabolischeWirkungen) zu beziehen.

Dazu muss ich allerdings etwas ausholen, indem ich mich kurz mit dem Begriff pharmakologische

Wirkungen als unbestimmtem Rechtsbegriff befasse. Unbestimmte

Rechtsbegriffe können, etwas vereinfacht, in zwei Formen vorliegen, nämlich

– als reiner Rechtsbegriff ohne Bezugnahme auf tatsächliche Umstände und

– als Rechtsbegriff mit Bezug auf tatsächliche Umstände.

Ein Beispiel für die erste Art ist der Begriff Treu und Glauben, ein Beispiel für die

zweite Art ist der Begriff pharmakologischeWirkungen.

Ein solcher Begriff ist zunächst einmal immer ein Rechtsbegriff. Denn mit jeder

Übernahme eines Wortes oder Begriffes in eine Rechtsvorschrift erhält dieses Wort

oder dieser Begriff, wie schon gesagt, eine eigene, nämlich rechtliche Bedeutung, die

sich überdies von dem täglichen oder wissenschaftlichen Sprachgebrauch entfernen

kann.

Das eigenartige von unbestimmten Rechtsbegriffen ist nun, dass sie den Rechtsanwender

nicht vollständig binden können, eben weil sie unbestimmt sind.Damit überträgt

der Gesetzgeber dem Rechtsanwender einen Teil der Rechtsetzung (jedoch an

die Rechtsordnung, insbesondere die verfassungsrechtlichen Vorgaben gebunden).

Oder umgekehrt: Der Gesetzgeber verzichtet auf einen Teil der Rechtsetzung.

Das ist nun allerdings im Gemeinschaftsrecht fast System, da es dort nach meinem

Eindruck als angenehmer empfunden wird, viele unbestimmte Rechtsbegriffe zu verwenden,

um die gesetzgeberische Schaffenskraft nicht mit Streitereien wegen kleinlicher

Details der Materie belasten zu müssen.

Wenn man dies berücksichtigt, überträgt der Gemeinschaftsgesetzgeber dem Rechtsanwender,

letztlich also dem Richter, die Aufgabe, selbst den Begriff pharmakologischeWirkung

zu konkretisieren. Dass es dann Zweifelsfälle geben kann, bedarf keiner

Begründung. Die Zweifelsregelung besagt mithin so betrachtet nichts anderes, als

dass der Richter, der sich nicht sicher ist, ob pharmakologischeWirkungen im Sinne

der Arzneimitteldefinition vorliegen, im Zweifel diese pharmakologischen Wirkungen

zu bejahen hat; oder umgekehrt: Nur wenn er nach seiner eigenen Überzeugung

die pharmakologischenWirkungen eindeutig ausschließen kann, handelt es sich nicht

um ein Arzneimittel, sondern in unserem Fall um ein Lebensmittel.

So eingeschränkt erhält die Zweifelsregelung auch unter rechtssystematischen

Gesichtspunkten einen vernünftigen Platz. Und da der Begriff pharmakologische

Wirkungen nachgerade prädestiniert ist, in der Rechtsanwendung Zweifel auszulösen,

erhält sie dabei auch eine kaum zu unterschätzendeWichtigkeit.

Mit dieser Beschränkung der Zweifelsregelung auf die Anwendung des Begriffes

pharmakologischeWirkung ist keine inhaltliche Einschränkung dieser Regelung verbunden,

wie sie vom OVG Münster in einer Entscheidung vom 10.11.2005 abgelehnt

wurde5

5 ZLR 2006, 96–„Tibetische Kräutertabletten“ = LMRR 2005, 49 (13 A 463/03) = LRE 51, 287.

. Da der Begriff pharmakologischeWirkung bei der Abgrenzung von Lebensmitteln

und Arzneimitteln der zentrale Begriff ist, verbleibt es auch dann bei dem

Vorrang des Arzneimittelrechts, wenn die Zweifelsregelung nicht auf die Begriffsbestimmungen

insgesamt, sondern nur auf den Begriff pharmakologische Wirkungen

bezogen wird.

Nach meiner Auffassung muss allerdings bei der Konkretisierung des Begriffes der

pharmakologischen Wirkungen vorrangig auf den eigentlichen Zweck der Lebensmittel,

nämlich die Ernährung abgestellt werden. Das ergibt sich für mich aus der

Begriffsbestimmung für Lebensmittel zu medizinischen Zwecken, also den bilanzierten

Diäten. Ich will das hier nicht näher ausführen; auf die bilanzierten Diäten

komme ich aber gleich noch zurück.

Zuvor will ich kurz vortragen, wie die Gerichte nach dem Inkrafttreten der Verordnung

(EG) 178/2002–unabhängig von der Zweifelsregelung–mit dem Begriff pharmakologischeWirkungen

umgegangen sind.

Ich beginne mit der schon erwähnten Entscheidung des OVG Saarlouis vom 3.2.2006

zur begrifflichen Zuordnung von Weihrauchextrakt. Das Gericht führte aus, es

komme darauf an, obWeihrauchextrakt physiologische Funktionen beeinflusst, und

zwar durch eine pharmakologische Wirkung. Eine solche Wirkung sei zu bejahen,

wennWeihrauchextrakt Körperfunktionen mit positiven oder negativen Auswirkungen

auf die Gesundheit beeinflusst.Nach umfangreichen Bezugnahmen auf medizinische

Literatur kommt das Gericht zu dem Ergebnis, in diesem Sinne seien pharmakologischeWirkungen

sowohl qualitativ als auch quantitativ zu bejahen, weilWeihrauchextrakt

entzündungshemmend und entzündungsfördernd wirke.

Ziemlich genau das Gegenteil führt das OVG Münster in seinen beiden Urteilen vom

17.3.2006 aus; ich zitiere: Steht die Einordnung eines als Nahrungsergänzungsmittel

aufgemachten Lebensmittels im Raum, ist dasVorliegen eines Funktionsarzneimittels

nicht an den im Einzelnen auftretenden Wirkungen–pharmakologisch, immunologisch,

metabolisch – sondern vor allem an dem Vorliegen eines therapeutischen

Zwecks festzumachen. Dieser sei u.a. dann gegeben, wenn ein in einem Produkt ent-

haltener Stoff geeignet sein könne, eineVerhütung,Heilung oder Linderung bestimmter

Krankheiten zu erreichen.

Mein Vortrag hat nicht das Ziel, diese Entscheidungsgründe zu kritisieren oder eine

Entscheidung, wie dies in einer Urteilsanmerkung geschehen ist, als vorbildlich zu

bezeichnen; ich will lediglich aufzeigen,wohin die Begriffsunklarheit des Lebensmittel-

und des Arzneimittelbegriffs in derWirklichkeit gerichtlicher Entscheidungsfindung

führen kann.

C. Bilanzierte Diäten

Das Verwirrspiel bei der Abgrenzung von Lebensmitteln und Arzneimitteln führt

zwangsläufig zu der Begriffsbestimmung für bilanzierte Diäten. Und diese Leistung

des Gesetzgebers der Gemeinschaft ist nun ein Musterbeispiel für die Divergenz zwischen

Anspruch und Wirklichkeit der rechtsstaatlichen Anforderungen an Begriffsklarheit

und Widerspruchsfreiheit. Ich will die begriffliche Problematik nur kurz

skizzieren und dann kurz festhalten, wie bislang deutsche Gerichte damit umgegangen

sind.

Arzneimittel sind nach der jetzt maßgebenden Richtlinie 2004/27/EG alle Stoffe, die

zur Heilung oder Verhütung menschlicher Krankheiten bestimmt sind, sowie–alternativ–

u. a. alle Stoffe, die menschliche physiologische Funktionen durch eine pharmakologischeWirkung

beeinflussen sollen.

Bilanzierte Diäten sind nach der Begriffsbestimmung in Art. 1 Abs. 2 Buchst. b der

Richtlinie 1999/21/EG Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke, die, abgesehen

von anderen Begriffsmerkmalen zur diätetischen Behandlung von Patienten

gedacht sind. Es bedarf in diesem Kreis keiner näheren Begründung dafür, dass

bilanzierte Diäten nach dieser Zweckbestimmung, nämlich der medizinischen Zwecke,

sowohl nach ihrer Bezeichnung als auch nach den vorausgesetzten Wirkungen

durch die Arzneimitteldefinition erfasst werden. Sie werden aber nach ihrer Bezeichnung

eindeutig den Lebensmitteln zugeordnet.

Es liegt mithin ein nahezu klassischer Fall einesWiderspruchs zwischen zwei Begriffen

vor. Ich meine, dass man nicht zu den verfassungsrechtlichen Puristen gehören

muss, um darin eineVerletzung des Grundsatzes derWiderspruchsfreiheit zu sehen.

Was machen nun die deutschen Gerichte daraus?

Zunächst kann man ihnen nach meiner Ansicht eine übergroße Höflichkeit gegenüber

dem Gesetzgeber der Gemeinschaft attestieren. Ich habe keine Entscheidung gefunden,

die den europäischen Gesetzgeber in der meines Ermessens gebotenenWeise kritisiert.

Die Gerichte sehen das Problem allerdings, wenn ich das so salopp sagen darf, auch

ganz locker.

Das OLG Frankfurt/Main führte in einer Entscheidung vom 12.1.20066

6 ZLR 2006, 428–„Androgenetische Alopezie“ = LMRR 2006, 1 (6 U 241/04) = LRE 52, 351.

aus, die Arzneimitteleigenschaft

eines als bilanzierte Diät angebotenen Erzeugnisses könne

unbeschadet der aus § 2 Abs. 1 Nr. 1 und 5 AMG ersichtlichen Begriffsbestimmung

nicht allein aus der besonderen medizinischen Zwecksetzung, nämlich der Bestimmung

zur diätetische Behandlung von Patienten hergeleitet werden, da dieVorschriften

der DiätV über bilanzierte Diäten andernfalls leer liefen.

Ähnlich führte das OLG Hamburg in einer Entscheidung vom 27.1. 20057

7 LMRR 2005, 33 (U 28/03) = LRE 52, 298.

aus, ich

zitiere: Da bilanzierte Diäten begrifflich eine diätetische Behandlung von krankhaften

Beschwerden bezwecken und auch Krankheit heilende oder lindernde, zumindest

aber verhütende Wirkung haben, kann zur Abgrenzung der Lebensmittel für besondere

medizinische Zwecke von den Arzneimitteln nicht auf die Wirkungen abgestellt

werden; maßgebend ist vielmehr die Zufuhr von Nährstoffen sowie der Stoffe, die für

die Verwertung dieser Nährstoffe in der besonderen physiologischen Situation der

Patienten erforderlich sind.

In einer Entscheidung vom 17.11.20058

8 LMRR 2005, 46 (29 U 4024/03) = LRE 52, 368.

hat sich auch das OLG München mit einer

bilanzierten Diät befasst und eine Einnahmeempfehlung–meines Ermessens

zurecht–als irreführend beurteilt. Die sowohl aufgrund der Bezeichnung „für besondere

medizinische Zwecke“ als auch aufgrund der Einnahmeempfehlung an sich aufzuwerfende

Frage, ob es sich bei dem Erzeugnis überhaupt um ein Lebensmittel handelt,

wurde nicht behandelt.

Dass in der Abgrenzung der Begriffe Lebensmittel/Arzneimittel bei bilanzierten Diäten

ein Problem besteht, ist dem gleichen Senat des OLG München dann aber in einer

Entscheidung vom 19.01.20069

9 ZLR 2006, 621–„Pflanzliche Sterole“ = LMRR 2006 11 (29 U 3361/05) = LRE 55, 403.

aufgefallen. Allerdings war hier die Klage auch auf

einVerkehrsverbot als Lebensmittel gerichtet.

Gegenstand der Entscheidung war ein Erzeugnis aus Konzentraten von pflanzlichen

Ölen, das wegen seines Gehaltes an pflanzlichen Sterolen zur diätetischen Behandlung

von Hypercholesterinämie verkauft wurde.Das Gericht kam–stark verkürzt–zu

dem Ergebnis, pflanzliche Sterole seien in gewöhnlichen Lebensmitteln enthalten, sie

dienten der Ernährung. Ob damit auch pharmakologischeWirkungen ausgelöst werden,

wird nicht näher erörtert, obgleich festgehalten wird, dass die pflanzlichen Sterole

einen medizinisch bedingten Bedarf decken.

Wenn wir uns daran erinnern, mit welcher Verbitterung viele Jahre lang darum

gekämpft wurde, ob Hinweise auf eine cholesterinsenkendeWirkung von Lebensmitteln

zulässig sind, ist die lapidare Begründung des Gerichts schon etwas verblüffend.

Nach meiner Auffassung10

10 Vgl. Zipfel/Rathke, Lebensmittelrecht, C 101 Art. 2VO(EG) 178/2002, Rdn. 68a.

besteht ein gangbarer Weg darin, die eindeutige Zuordnung

der bilanzierten Diäten zu den Lebensmitteln auch für die Abgrenzung der

Lebensmittel und Arzneimittel nutzbar zu machen, indem der Zweckbestimmung zur

Ernährung eine maßgebende Bedeutung für diese Abgrenzung zugesprochen wird.

Ich will das hier nicht näher ausführen und räume, wenn auch ungern ein, dass auch

diese Auffassung akrobatische Elemente hat.

D. Der Zusatzstoffbegriff

Während sich der gemeinschaftsrechtliche Lebensmittelbegriff noch im Stadium der

Kindheit befindet, ein Stadium, das manche Unart erklärbar macht, trifft dies für den

gemeinschaftsrechtlichen Zusatzstoffbegriff nicht zu. Stattdessen befand er sich über

viele Jahre in heftigem Streit mit dem überkommenen deutschen Zusatzstoffbegriff.

„Befand“ ist allerdings gar nicht das richtige Wort, weil dieser Streit noch immer

nicht ausgestanden ist. Denn der deutsche Gesetzgeber hielt es für richtig, dem auf

technologische Verwendung beschränkten gemeinschaftsrechtlichen Zusatzstoffbegriff

die deutsche Begriffsbestimmung anzukleben. Damit haben wir unter anderem

das Vergnügen, uns weiterhin mit den Problemen der abstrakten und konkreten

Betrachtungsweise zu amüsieren. Ich vermute, dass dem deutschen Gesetzgeber der

Abschied von dieser Problematik ganz einfach zu schwer gefallen ist.

Mit dieser Problematik will ich mich allerdings zunächst nicht beschäftigen. Es

scheint mir für das Thema dieses Vortrags viel ertragreicher, den deutschen Zusatzstoffbegriff

in § 2 Abs. 3 LFGB auf Klarheit und Freiheit vonWidersprüchen zu untersuchen.

Auf den ersten Blick scheinen sich Schwierigkeiten aus dem Nebeneinander von

gemeinschaftsrechtlichen und ergänzendem deutschen Zusatzstoffbegriff nicht zu

ergeben. Während sich nämlich der gemeinschaftsrechtliche Begriff auf die Verwendung

von Stoffen zu technologischen Zwecken bezieht, erfasst die deutsche Gleichstellung

in Satz 2 der Begriffsbestimmung Stoffe, die Lebensmitteln aus anderen als

technologischen Gründen zugesetzt werden. Das können, da Stoffe Lebensmitteln

allenfalls in Ausnahmefällen ohne produktbezogene Zweckbestimmung zugesetzt

werden, nur Ernährungszwecke sein.

Da mit diesem Teil der Begriffsbestimmung praktisch alle Stoffe den Zusatzstoffen

zugeordnet wären, bestand–wie früher im LMBG– die Notwendigkeit, die Definition

auf solche Stoffgruppen einzuschränken, die nach Ansicht des Gesetzgebers ein

Gefährdungspotenzial haben. Dies geschah in dem Zusatzstoffbegriff des § 2 LMBG

durch das Ausklammern von Stoffen, die–abgesehen von anderenVoraussetzungen –

wegen ihres Ernährungs- oder Geschmackswertes verwendet werden. Das bedeutet,

dass die nunmehr in § 2 Abs. 3 Satz 2 LFGB erfassten Stoffe mit Zweckbestimmung

zur Ernährung durch dessen Halbsatz 2 weitgehend wieder ausgenommen sind.

Lediglich Stoffe nicht natürlicher Herkunft sowie die auch früher gleichgestellten

Mineralstoffe, Aminosäuren, Vitamine usw. verbleiben dann als Zusatzstoffe. Das

wäre allerdings auch einfacher zu formulieren gewesen, indem nämlich diese einzelnen

Stoffgruppen für sich den Zusatzstoffen des gemeinschaftsrechtlichen Zusatzstoffbegriffes

gleichgestellt worden wären.

Diese gesetzgeberische Kapriole lässt sich zwanglos mit Nostalgie erklären. Und ich

bin sicher, dass manche Lebensmittelrechtler unserem ach so guten alten Zusatzstoffbegriff

die eine und andere Träne nachgeweint haben. Allerdings vermute ich auch,

dass nicht nur Nostalgie, sondern ein eiskalt berechneter politischer Befehl der

Anknüpfung an die alte Begriffsbestimmung zu Grunde lag.

Nostalgie hin, Politik her, viel wichtiger für das Thema diesesVortrags ist die aus dem

gemeinschaftsrechtlichen Begriff übernommene Beschränkung der Gleichstellung

auf Stoffe, die–ich zitiere–üblicherweise weder selbst als Lebensmittel verzehrt noch

als charakteristische Zutat eines Lebensmittels verwendet werden. Damit wird nämlich

der größte Teil der verbliebenen gleichgestellten Stoffe, aus der Gleichstellung

wieder hinausgeworfen. Das trifft zwar kaum für dieVariante selbst als Lebensmittel

verzehrt zu, umso mehr aber für die Stoffe, die als charakteristische Zutat eines

Lebensmittels verwendet werden. Dass Mineralstoffe und Spurenelemente vielfach

Lebensmitteln, z.B. Nahrungsergänzungsmitteln zugesetzt werden und dass dies

dann charakteristische Zutaten sind, ist offensichtlich. Das gleiche kann auch für

Aminosäuren in Betracht kommen. Charakteristische Zutaten sind aber vielfach

auch die gleichgestelltenVitamineA und D. Es bleiben wohl auf Grund der Ausnahme

charakteristischer Zutaten nur wenige Stoffe übrig, die den Zusatzstoffen nach Satz

2 gleichgestellt sind, zumal in Satz 3 auch die Verarbeitungshilfsstoffe und Aromen

aus dem deutschen Rudiment des alten Zusatzstoffbegriffes ausgenommen sind.

Abgesehen von dem Sinn der Gleichstellung ist aber hier vor allem die Kompliziertheit

der Gleichstellung gemäß Satz 2 hervorzuheben, letztlich eine Art Verhau aus

gemeinschaftsrechtlichen und alten deutschen Begriffselementen. Dass damit den

Anforderungen an die Begriffsklarheit nicht entsprochen wird, ist jedenfalls für mich

offensichtlich.

Besonders misslich ist, dass–abgesehen von der damals bereits existierenden Richtlinie

für Nahrungsergänzungsmittel mit Vorschriften zur Verwendung von Vitaminen

und Mineralstoffen–während der parlamentarischen Beratungen des LFGB der baldige

Erlass einer Verordnung der Gemeinschaft über den Zusatz von Vitaminen und

Mineralstoffen feststand. Diese Verordnung ist bekanntlich zwischenzeitlich unter

der Nr. 1925/2006/EG verkündet worden und nun dürfen wir uns alle–zwischen

Anspruch und Wirklichkeit der Begriffsklarheit schwebend–damit befassen, welche

Konsequenzen sich daraus ergeben.

An dieser Stelle meinesVortrages wollte ich eigentlich darstellen, was die deutschen

Gerichte aus dieser begrifflichen Gleichstellung gemacht haben, um dem Thema dieserVeranstaltung,

„Das neue Lebensmittelrecht auf dem Prüfstand“ zu entsprechen.

Ich habe dazu zahlreiche Gerichte um Abdrucke von Entscheidungen gebeten, und

zwar auch große Amtsgerichte und fast alleVerwaltungsgerichte als erstinstanzliche

Entscheidungskörper. Obgleich die weit überwiegende Zahl der Gerichte geantwortet

hat, kann ich Ihnen keine Entscheidungen nennen, die speziell auf die Gleichstellung

der Stoffe nach § 2 Abs. 2 LMBG mit den gemeinschaftsrechtlich definierten Zusatzstoffen

eingehen musste. Dafür kann es zwei Gründe geben, nämlich

– diese Gleichstellung ist entgegen meinen Ausführungen unproblematisch oder

– die Gleichstellung ist ganz oder zumindest weitgehend überflüssig.

Ich neige, das ist sicher nicht überraschend, der zweiten Alternative zu.

Durch das Fehlen aktueller Urteile wird mir leider die Möglichkeit genommen, auf

die Problematik der abstrakten und konkreten Betrachtungsweise einzugehen,

obgleich es reizvoll wäre zu belegen, dass in manchen früheren Urteilen die notwendige

Unterscheidung zwischen dem gemeinschaftsrechtlichen Zusatzstoffbegriff und

dem deutschen Anhängsel zumindest nicht erkennbar ist. Ich will dennoch meine

Auffassung wiederholen, dass die abstrakte Betrachtungsweise für die Gleichstellung

nach § 2 Abs. 3 Satz 2 LFGB auch weiterhin maßgebend ist, weil dieser Teil der Definition

an die alte Definition anknüpft. Dagegen hat die abstrakte Betrachtungsweise

in der Anwendung des gemeinschaftsrechtlichen Zusatzstoffbegriffs nichts zu

suchen. Das ergibt sich einerseits aus der Zuordnung verschiedener Stoffgruppen zu

diesem Begriff, die mit der abstrakten Begriffsbestimmung nicht vereinbar ist, und

kann andererseits darauf gestützt werden, dass dem europäischen Recht feinsinnige

Konstruktionen wie die abstrakte Betrachtungsweise nicht geläufig sind.

Meine bisherigen Ausführungen zu dem Zusatzstoffbegriff könnten den Eindruck

erwecken, der gemeinschaftsrechtliche Zusatzstoffbegriff entspreche nach meiner

Auffassung den Erfordernissen der Begriffsklarheit und Widerspruchsfreiheit. Ich

will mich beeilen, diesen Eindruck auszuräumen. Das allerdings nur in Kürze.

Das maßgebende Begriffsmerkmal des gemeinschaftsrechtlichen Zusatzstoffbegriffes

in Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 89/107/EWG ist, dass er nur Stoffe erfasst, die zu technologischen

Zwecken bestimmt sind. Nun ist der Begriff technologische Zwecke

sicher ein sehr unbestimmter Rechtsbegriff. Aber es kann doch unter Rückgriff auf

den allgemeinen und technologischen Sprachgebrauch davon ausgegangen werden,

dass Stoffe, die aus Geschmacksgründen zugesetzt werden, keinen technologischen

Zwecken dienen. Das hat allerdings den gemeinschaftlichen Gesetzgeber wenig

bekümmert. Er hat nämlich in Art. 1 Abs. 3 der Richtlinie Aromen, also Stoffe, die

ausschließlich zu Geschmackszwecken und dementsprechend nicht zu technologischen

Zwecken verwendet werden, aus der Definition ausgeklammert. Bedeutet dies,

dass die Beeinflussung von Geschmack ein technologischer Zweck im Sinne der Definition

des Abs. 2 ist? Wie sind dann die Gewürze und andere geschmacksgebende

Stoffe einzuordnen?

Dieselbe Frage stellt sich, allerdings noch schärfer, für die Ausnahme des Abs. 3

Buchstabe d; danach sind auch Stoffe, die Lebensmitteln zu Ernährungszwecken beigefügt

werden, z.B.Mineralstoffe undVitamine aus der Erfassung der Stoffe mit technologischer

Zweckbestimmung ausgenommen. Soll damit gesagt werden, dass Mineralstoffe

undVitamine zu technologischen Zwecken verwendet werden ? Nur so ließe

sich jedenfalls dieAusnahme unter dem Gesichtspunkt der Begriffsklarheit erklären.

Noch eigenartiger ist die Erfassung bestimmter Süßungsmittel als Zusatzstoffe durch

die Richtlinie 94/36/EWG. Ist das Süßen ein technologischer Zweck? Dann wäre

allerdings auch Zucker ein Zusatzstoff.

Ich denke es bedarf keiner näheren Begründung dafür, dass die gemeinschaftsrechtliche

Definition der Zusatzstoffe mit den Ansprüchen an Begriffsklarheit und Widerspruchsfreiheit

nur schwer vereinbar ist. Nachsichtige Kommentatoren mögen diese

Art der Rechtssetzung als pragmatisch bezeichnen. Das ändert aber auch nichts

daran, dass die gemeinschaftsrechtliche Definition der Zusatzstoffe, so weit sie sich

auf technologische Zwecke bezieht, den Anforderungen an Begriffsklarheit nicht entspricht.

E. Das Irreführungsverbot

Ich verlasse den gemeinschaftsrechtlichen Begriffshimmel und wende mich dem allgemeinen

Irreführungsverbot zu.Hier haben wir eine ähnliche Situation wie bei dem

Zusatzstoffbegriff des § 2 Abs. 3 LFGB. Es gibt für Lebensmittel ein allgemeines

gemeinschaftsrechtliches Verbot der Irreführung, das mit § 11 Abs. 1 LFGB in deutsches

Recht umgesetzt wurde, und eine Ergänzung in Abs. 2 dieser Vorschrift, die

einen Teil der vorangegangenen deutschen Regelung des § 17 LMBG anfügt.

Ebenso wie zu dem Nebeneinander des gemeinschaftsrechtlichen und des Restbestandes

des deutschen Zusatzstoffbegriffes stellt sich auch hier die Frage, ob es erforderlich

war,mit § 11 Abs. 2 Nr. 2 auf dasVerbot des § 17 Abs. 1 Nr. 2 LMBG zurückzugreifen,

also dasVerbot, nachgemachte, wertgeminderte oder geschönte Lebensmittel

inVerkehr zu bringen.

Oder umgekehrt ausgedrückt: Reicht das gemeinschaftsrechtliche Irreführungsverbot

in Art. 2 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 2000/13/EG, das mit § 11 Abs. 1 LFGB in

deutsches Recht umgesetzt wurde, nicht aus, um nachgemachte, wertgeminderte und

geschönte Lebensmittel, sofern diese Umstände nicht kenntlich gemacht sind, vom

Inverkehrbringen auszuschließen?

Und wenn das der Fall ist, war dann der deutsche Gesetzgeber gemeinschaftsrechtlich

berechtigt, das Irreführungsverbot der Richtlinie zu ergänzen?

Auch diese zweite Frage spricht das Thema meinesVortrags, also die Anforderungen

an Begriffsklarheit undWiderspruchsfreiheit an. Denn es ist nicht nur eine Frage der

gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen, ob nationales Recht mit dem Gemeinschaftsrecht

vereinbar ist. Für die Praxis mindestens ebenso wichtig ist, dass nationales

Recht nachvollziehbar mit Gemeinschaftsrecht abgestimmt ist. Dabei ist von

besonderer Bedeutung, dass Gemeinschaftsrecht nach wie vor nicht allen damit

befassten Gremien gegenwärtig ist. So hat erst kürzlich das Bundesverwaltungsgericht

in einer Entscheidung zur Übertragung hoheitlicher Befugnisse auf private

Kontrollstellen dieVerordnung (EG) 882/2004 schlicht übersehen.

Dass ein Beharren auf nationalem deutschem Recht zu einem begrifflichen Desaster

führen kann, hat, wie ich meine, die Erörterung des Zusatzstoffbegriffes gezeigt.

Nun vertrete ich allerdings die Auffassung, dass eine Divergenz zwischen dem

gemeinschaftsrechtlichen Irreführungsverbot und § 11 LFGB nicht besteht, weil alle

früher durch § 17 Abs. 1 Nr. 2 LMBG und jetzt durch den inhaltsgleichen Abs. 2 Nr. 2

des § 11 LFGB erfassten Fälle schon demVerbot des § 11 Abs. 1 unterliegen, so dass

Abs. 2 Nr. 2 zwar zur Konkretisierung desVerbotes in Abs. 1 dient, jedoch als selbstständiger

Tatbestand nicht erforderlich ist.

Da ich mich mit dieser Auffassung Ihrer Kritik stelle, will ich sie hier kurz begründen.

Sie beruht auf zwei, an sich selbstverständlichen Prämissen, nämlich

– dass zur Aufmachung eines Lebensmittels nicht nur seine Bezeichnung und andere

Angaben gehören, sondern auch sein Aussehen und

– dass ohne Bezeichnung, sonstige Angaben oder Aufmachung einschließlich Aussehen

des Lebensmittels eine Irreführung nicht möglich ist, weil ohne diese Bezugspunkte

keineVerbrauchererwartung entstehen kann.

Daraus ergibt sich für die Tatbestände des § 11 Abs. 2 Nr. 2 LFGB:

Erhält der Käufer ein nachgemachtes Lebensmittel, also ein Lebensmittel, das hinsichtlich

seiner Beschaffenheit nicht seiner Bezeichnung entspricht, wird er durch die

Bezeichnung irregeführt, das Inverkehrbringen unterliegt mithin demVerbot des § 11

Abs.1 LFGB.

Erhält der Käufer ein wertgemindertes Lebensmittel, so richtet sich seine Erwartung

nach seiner Bezeichnung und Aufmachung (Aussehen, Gesamteindruck), er erwartet

also ein nicht wertgemindertes Lebensmittel und wird irregeführt, wenn das Lebens-

mittel nicht der Beschaffenheit entspricht, die der Verbraucher aufgrund Bezeichnung,

Angabe oder Aufmachung (einschließlich Aussehen) erwartet

Erhält der Käufer ein Lebensmittel, das geschönt ist, erwartet er eine Beschaffenheit

entsprechend seinem Aussehen; er wird irregeführt, weil das Lebensmittel, da lediglich

geschönt, dieser Erwartung nicht entspricht.

Meiner Auffassung wird entgegengehalten, dass Abs. 1 des § 11 LFGB nicht erkennbar

ekelerregend hergestellte Lebensmittel, z.B. in schmutzigemWasser gewaschenes

Obst oder Gemüse, nicht erfasse.Das ist jedoch nicht richtig. Dabei knüpfe ich an den

seit vielen Jahrzehnten in Deutschland maßgebenden Grundsatz an, dass Kriterium

für die Beurteilung einer Irreführung die berechtigteVerbrauchererwartung oder allgemeineVerkehrsauffassung

ist und

– dass derVerbraucher ein nach den gesetzlichen, also auch nach den hygienerechtlichen

Vorschriften einwandfrei hergestellte Lebensmittel erwarten kann und

erwartet.

Dementsprechend erwartet derVerbraucher auch bei Obst und Gemüse, dass es nicht

in verschmutztem Wasser gewaschen wurde.War das doch der Fall, liegt eine durch

die Bezeichnung hervorgerufene Irreführung im Sinne des § 11 Abs. 1 LFGB vor.

Ich würde das gerne auch an Hand einer Entscheidung darlegen, die bereits zu § 11

LFGB ergangen ist. Eine solche Entscheidung liegt aber, soweit für mich erkennbar,

bislang nicht vor.

Ich greife deshalb auf eine Entscheidung zu § 17 Abs.1 Nr. 1 LMBG, und zwar die

Entscheidung desVG München vom 8.7.198711

11 LMRR 1987, 41 (M 9 K 85.5801).

zurück. Sie bezieht sich auf Braumalz,

das aufgrund seiner Lagerung durch Mäusekot, Mäusegeruch und Gespinste verschmutzt

war, im Rahmen der Herstellung von Bier aber intensiv gereinigt wurde.

Meine Frage vor allem an die Befürworter des § 11 Abs. 2 Nr. 2 LFGB: Erwartet der

Verbraucher, dem unter der Bezeichnung Bier ein Getränk angeboten wird, dass es

aus zunächst verschmutztem und dann gereinigtem Braumalz hergestellt worden ist?

Oder haben wir darauf abzustellen, dass der Verbraucher eine den gesetzlichen Vorschriften

entsprechende, mithin auch den hygienischen Anforderungen entsprechende

Herstellung des Bieres erwartet? Ich meine, die Antwort ist eindeutig:Wer ein

unter hygienischen Mängeln hergestelltes Getränk als Bier bezeichnet, bewirkt durch

diese Bezeichnung eine Irreführung im Sinne des § 11 Abs. 1 LFGB.

Eine grundlegendeVoraussetzung der Begriffsklarheit ist aus meiner Sicht, dass ein

Begriff immer aus seiner Herkunft und seinem unmittelbarem rechtlichen Zusammenhang

angewandt wird. Ich habe das bereits kurz angesprochen. Es ist für mich

nicht vertretbar, einen Begriff wie ein überirdisches Meta-Wesen zu verselbstständigen

und dann damit deduktiv zu arbeiten.

Das gilt gleichermaßen für dieVerwendung vonWorten, die keine Rechtsbegriffe sind,

aber mit ähnlichem Habitus verwendet werden. Und dies trifft vor allem für die–im

Kapitel Irreführung nicht zu übergehende–Figur des flüchtigen Verbraucher zu, der

uns jahrzehntelang begleitet und sich dann in einermerkwürdigenMetamorphose in

einen aufmerksamenVerbraucher verwandelt hat.

Dass diese Metamorphose tatsächlich vollzogen wurde, ist allerdings nicht gesichert.

Denn manche Entscheidungen erwecken den Eindruck, dass lediglich das Wort und

nicht die Beurteilungskriterien ausgetauscht wurden. Wichtiger ist allerdings aus

meiner Sicht, dass es sich bei dem flüchtigen oder aufmerksamenVerbraucher nicht

um einen Rechtsbegriff handelt, sondern um einen Maßstab für die Beurteilung einer

Angabe oder Aufmachung. Das wird auch durch das Attribut Leitbild nicht ausreichend

deutlich.

Zwar wird damit deutlich gemacht, dass der Verbraucher als Maßstab keine reale

Erscheinung ist und dass es deshalb, so jedenfalls meine Auffassung, verfehlt ist,

durch Befragungen die Verbrauchererwartung bzw. die allgemeine Verkehrsauffassung

als Maßstab festzustellen (glücklicherweise haben sich die Richter im Lebensmittelrecht

solchen Beweisanträgen weitgehend entzogen).

Die Qualifizierung des aufmerksamenVerbrauchers als Leitbild führt aber dazu, die

Figur wie einen Rechtsbegriff zu verwenden und das verstößt aus meiner Sicht

gleichfalls gegen das Erfordernis der Begriffsklarheit. Dadurch wird nämlich verdeckt,

dass bei der Rechtsfindung Fehlvorstellungen derVerbraucher in bestimmtem

Rahmen hingenommen werden müssen, weil es nicht möglich ist, Fehlvorstellungen

für alle angesprochenenVerbraucher zu verhindern12

12 Ein Beispiel für die Notwendigkeit einer richtigen Verwendung des Begriffes Verbraucher ist die Äußerung

des Vertreters der Verbraucher in der Podiumsdiskussion des diesjährigen Lebensmittelrechtstags,

Thomas Isenberg: Er trug sinngemäß vor, der aufmerksame Verbraucher wolle seiner Aufmerksamkeit

entsprechend informiert werden. Dabei wurde jedoch der aufmerksameVerbraucher als Maßstab für die

Rechtsfindung mit dem realenVerbraucher als Adressat von Informationen verwechselt.

.

Diese Überlegung führt allerdings nicht wieder zu einem bestimmten Prozentsatz der

Verbraucher, deren Irreführung hingenommen wird. Dabei wird nämlich übergangen,

dass Fehlvorstellungen vonVerbrauchern nicht in plus/minus-Entscheidungen bestehen.

Es gibt bei jeder Angabe zwischen vollständigem Missverständnis und voll

zutreffenderAufnahme in das Bewusstsein eine weite Skala desVerständnisses, sei es,

dass die Angabe nur teilweise richtig verstanden wird oder sei es, dass der Käufer

ihren Inhalt zwar halbwegs erkennt, aber nicht berücksichtigen will.

Die Beurteilung einer Angabe als irreführend setzt deshalb nach meinemVerständnis

eine Abwägung voraus, ob mögliche Fehlvorstellungen im Sinne des Verbraucherschutzes

verhindert oder akzeptiert werden müssen. Dies ist allerdings keine Abwägung

zwischen den Interessen derWirtschaft und den Interessen derVerbraucher, sondern

eine ausschließlich rechtliche Beurteilung unter dem Kriterium des Verbraucherschutzes.

Ich kann mir nicht versagen, zum Abschluss dieses Kapitels noch aus einer Entscheidung

des OLG Karlsruhe vom 8.3.200613

13 ZLR 2006, 290, 296–„Kollagen-Hydrolysat“ = LMRR 2006, 10 = LRE 53, 261.

zur Werbung mit der Angabe „Gelenkschutzformel“

für ein Nahrungsergänzungsmittel zu zitieren; das Zitat lautet: Diese

Aussage enthält für den normal informierten und angemessen aufmerksamen und

verständigen Durchschnittsverbraucher, an den sich die Werbung wendet, die

Angabe, dass ... Damit ist der flüchtigeVerbraucher, weil er nicht mehr Adressat der

Werbung ist, aus den Irreführungsverboten endgültig eliminiert.

F. Weitere Beispiele

Es sind noch einige weitere Beispiele zur Widerspruchsfreiheit kurz auf den Prüfstand

zu nehmen:

Ich beginne mit dem BegriffWiederausfuhr in Art. 12 derVerordnung (EG) 178/2002.

Nach dieserVorschrift haben ausgeführte und wieder ausgeführte Lebensmittel und

Futtermittel bestimmte Anforderungen zu erfüllen. Sprachlich kommt eine Wiederausfuhr

nur in Betracht, wenn das Lebensmittel oder Futtermittel eingeführt wurde.

Wurde das Erzeugnis eingeführt, also zum innergemeinschaftlichen Warenverkehr

zollrechtlich abgefertigt, handelt es sich um Gemeinschaftsware. Dementsprechend

ist es, wenn dieseWare wieder aus der Gemeinschaft in ein Drittland verbracht wird,

nichts anderes als Ausfuhr. Mithin ist der Begriff Wiederausfuhr lebensmittelrechtlich

schlicht überflüssig.Auch überflüssige Begriffe sind, jedenfalls nach meiner Auffassung,

mit dem Gebot derWiderspruchsfreiheit nicht zu vereinbaren.

Ein weiteres Beispiel entnehme ich aus Art. 19 derVerordnung (EG) 178/2002. Abs. 3

dieser Vorschrift bestimmt eine Verpflichtung zur Unterrichtung der Behörden und

beginnt mit folgender Formulierung: Erkennt ein Lebensmittelunternehmer oder hat

er Grund zu der Annahme, dass ein von ihm inVerkehr gebrachtes Lebensmittel möglicherweise

die Gesundheit des Menschen schädigen kann. Kann ein Lebensmittel

möglicherweise die Gesundheit des Menschen schädigen, so besteht ein Risiko im

Sinne der Definition des Art. 3 Nr. 9 der Verordnung. Hat unser Gesetzgeber der

Gemeinschaft das übersehen oder etwas anderes gemeint?

Und was hat er mit einem Risiko für die Gesundheit im ersten Halbsatz des Art. 10

derVerordnung (EG) 178/2002 und der Formulierung möglicherweise damit verbundenem

Risiko im zweiten Halbsatz gemeint, wenn das Risiko nach der Definition in

Art. 3 Nr. 9 eine Funktion der Wahrscheinlichkeit einer die Gesundheit beeinträchtigende

Wirkungen ist, mithin die Gesundheit bereits einschließt?

Ich steige hinab in das Richtlinienrecht: in Anhang II der Farbstoff-Richtlinie werden

Kakaoerzeugnisse generell aus der Zulassung von Farbstoffen ausgenommen. In

Anhang IV der Zusatzstoff-Richtlinie wird der Zusatzstoff E 476 zu Erzeugnissen auf

Kakaobasis einschließlich Schokolade zugelassen. Handelt es sich dabei um dieselben

Produkte?

G. Verfassungsrechtlicher Anspruch auf Begriffsklarheit und

Widerspruchsfreiheit?

Es ist an der Zeit, nach der verfassungsrechtlichen Bedeutung meiner bisherigen

Feststellungen zu fragen. Handelt es sich dabei um ein wichtiges Kriterium der

Rechtspraxis? Rein akademische Überlegungen, so reizvoll sie auch sind, haben

sicher im praktischen Lebensmittelrecht nichts verloren. Die Frage ist:

Gibt es einen verfassungsrechtlichen Anspruch auf Begriffsklarheit und Widerspruchsfreiheit,

der für die lebensmittelrechtliche Praxis Bedeutung hat?

Zunächst zur verfassungsrechtliche Begründung dieses Anspruchs (wobei ich allerdings

denVerfassungsrechtlern nicht ins Handwerk pfuschen möchte und mich deshalb

auf eine kurze Skizzierung beschränke):

Ausgangspunkt der Begründung ist das Erfordernis einer Bestimmtheit gesetzlicher

Vorschriften, auf das ich mich hier beschränken will14

14 In der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung und Literatur wird das Erfordernis der Begriffsklarheit

und Widerspruchsfreiheit auch auf andere Grundsätze der Verfassung, insbesondere das Rechtsstaatsprinzip

(vgl. z.B. BVerfG NVwZ 2003, 1497) und den Gleichheitssatz zurückgeführt; auf die damit verbundene

Frage, ob gegen Begriffsklarheit undWiderspruchsfreiheit verstoßende Rechtsvorschriften nichtig

sind, muss hier nicht näher eingegangen werden. (vgl. dazu z.B. Sendler, NJW 1998, 2875).

. Es ergibt sich aus Art. 20

Abs. 3 GG. Danach ist die Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende

Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden. Dem

ist nicht entsprochen,wenn Regelungen so unklar und widersprüchlich sind, dass der

Normbetroffene die Rechtslage nicht erkennen und seinVerhalten danach nicht einrichten

kann15

15 BVerfG NJW 1982, 1275; BVerfGE 17, 306, 314; 26, 41, 42; 31, 255, 264; 37, 132, 142; 75, 329, 341; 78,2 105,

212; 80, 1 = NVwZ 1989, 850; 82, 209 = NJW 1990, 2306; BVerfGE 84, 133, 149; BVerwG NVwZ 1994, 77;

Sommermann in v.Mangoldt/Klein/Starck Bonner Grundgesetz Art. 20 Rdn. 279; Hofmann in Schmidt/

Bleibtreu/Klein Kommentar zum Grundgesetz Art. 20 Rdn. 41.

.

Nun sind wir uns alle klar darüber, dass Rechtsbegriffe, insbesondere auf einem

höheren Abstraktionsniveau, nicht inhaltlich eindeutig sein können. Daran ändern

auch nichts die Theorien großer Rechtsgelehrter, die mit Verständnismustern wie

Begriffskern und Begriffhof, positiven und negativen Kandidaten, deskriptiven, normativen,

präskriptiven und evaluativen Begriffen gearbeitet haben. Mit unbestimmten

Rechtsbegriffen überträgt der Gesetzgeber, wie ich schon ausgeführt habe, dem

Richter einen Teil der Rechtssetzung.

Das ist jedoch nicht uneingeschränkt zulässig. Der Bestimmtheitsgrundsatz verlangt

als äußerste Grenze der Unbestimmtheit eines Rechtsbegriffes, dass dieser Begriff für

den Normbetroffenen bestimmbar ist, er verlangt die Erkennbarkeit der Rechtslage

durch den Normbetroffenen.

So bedauerlich es vielleicht sein mag, das wohl älteste Lebensmittelrecht, bestehend

aus den Sätzen

– du sollst das Fett deines Nachbarn nicht vergiften und

– du sollst das Fett deines Nachbarn nicht verzaubern,

also die damaligen Grundregeln des Schutzes vor Gesundheitsschäden und Täuschung,

würden dem Bestimmtheitsgrundsatz des Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz nicht

genügen.

Die sich daran anknüpfenden Frage, ob dies für das extreme Gegenteil, nämlich die

tausende und aber tausende lebensmittelrechtlicherVorschriften der Gegenwart, insbesondere

der Gemeinschaft auch gilt, gehört glücklicherweise nicht zumThema meinesVortrags.

Festzuhalten habe ich jedoch, dass der aus dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der

Bestimmtheit zu entnehmende Anspruch auf Begriffsklarheit nicht erfüllt ist, wenn

der Normbetroffene nicht erkennen kann, welche Handlung oder welches Unterlassen

von ihm gefordert wird.

Während hiernach der Anspruch auf Begriffsklarheit ziemlich eindeutig aus demVerfassungsrecht

abzuleiten ist, trifft dies für den Anspruch auf Widerspruchsfreiheit

nicht ohneWeiteres zu. Es hat jedenfalls eine sehr kontroverse Literatur ausgelöst, als

das Bundesverfassungsgericht 1998 den Anspruch auf Widerspruchsfreiheit als verfassungsrechtlichen

Grundsatz in einer steuerrechtlichen Entscheidung zu Grunde

legte16

16 BVerfGE 98, 83 = NJW 1998, 2346; BVerfGE 98, 106 = NJE 1998, 2341; BVerfG NJW 2006, 2757; aus der

Literatur insbesondere Sendler, NJW 1998, 2875, Jarras AöR 126, 588 und Kirchhof StuW 2000. 316.

. Es leitete diesen Anspruch aus dem Rechtsstaatsprinzip ab.Nach meiner Auffassung

ergibt sich der Anspruch allerdings auch aus dem Bestimmtheitsgrundsatz,

wenn man ihn nicht auf die einzelneVorschrift, sondern auf alleVorschriften anwendet,

die eine Rechtsfolge für einen Einzelfall bestimmen. Widersprechen sich

diese Vorschriften, erscheint mir dies als die stärkste Verletzung der Bestimmtheit

dieserVorschriften.

Es steht mir nicht zu, dies hier zu vertiefen. Stattdessen ist kurz festzuhalten, dass

Begriffsklarheit und Widerspruchsfreiheit auch für das Gemeinschaftsrecht maßgebend

sind.

Nun gibt es bekanntlich noch kein geschriebenesVerfassungsrecht der Gemeinschaft.

Der–ich verwende den gleichen Ausdruck–Anspruch des Gemeinschaftsbürgers auf

eine europäische Verfassung begleitet uns praktisch seit Beginn der Gemeinschaft.

Trotz–oder richtiger wegen–dieses Versäumnis der Mitgliedstaaten hat der EuGH

verfassungsrechtliche Anforderungen entwickelt, zu denen ebenso wie nach deutschem

Verfassungsrecht das Erfordernis der Bestimmtheit gesetzlicher Vorschriften

einschließlich der darin enthaltenen Begriffe gehört17

17 Streinz in Streinz (Hrsg,) EUV/EGV GR Art. 49 Rdn. 3 f; Pernice/Mayer in Grabitz/Hilf EUV nach Art. 6

Rdn. 295; Kühling/Lieth, Dogmatik und Pragmatik im Gemeinschaftsrecht, EuR 2003, 371, 376.

. Mithin ist auch der Gesetzgeber

der Gemeinschaft dem Anspruch auf Begriffsklarheit und Widerspruchsfreiheit

verpflichtet. Auch gemeinschaftsrechtliche Vorschriften müssen so bestimmt sein,

dass der Normbetroffene das darin enthaltene Gebot oderVerbot inhaltlich erkennen

kann.

Diese verfassungsrechtliche Feststellung führt zwangsläufig zu der praktischen

Frage, ob die Normbetroffenen, und das sind nicht die zu schützenden Verbraucher,

sondern die Hersteller und Händler der Lebensmittelwirtschaft, in der Lage sind,

Begriffe wie pharmakologischeWirkung, bilanzierte Diäten oder auch dasVerhältnis

zwischen dem gemeinschaftsrechtlichen Zusatzstoffbegriff und dem deutschen

Anhängsel zu erkennen.

Nun kann sich das Erfordernis der Erkennbarkeit einer Norm nicht auf den verantwortlichen

Kaufmann oderTechnologen in einem Unternehmen beziehen. Da schließlich

wir Anwälte auch etwas zu tun haben wollen, ist Leitfigur hier nicht der verständige

und aufmerksame Lebensmittelunternehmer, sondern der beratende Anwalt.

Allerdings mit einer Einschränkung: Der Anwalt kann nur beratend tätig sein, nicht

die Entscheidung selbst treffen. Die Ansprüche an Begriffsklarheit und Widerspruchsfreiheit

verlangen mithin, dass der Anwalt–oder sonstige juristische Berater–

in die Lage versetzt wird, den Inhalt der gesetzlichen Vorschrift einem Laien,

nämlich dem Lebensmittelunternehmer verständlich zu machen. Nur dann kann der

Lebensmittelunternehmer eine verantwortliche Entscheidung fällen.

Ich konstruieren dazu einen, zugegebenermaßen etwas unwirklichen Fall:

Ein Lebensmittelunternehmer will ein Nahrungsergänzungsmittel entwickeln, dessen

wesentlicher Bestandteil Nachtkerzenöl ist. Er hat in einer bunten Zeitschrift

gelesen, dass die im Nachtkerzenöl enthaltenen Phytosterole zurTherapie von Hypercholesterinämie

dienen, eine protektive Wirkung gegen Dickdarmkrebs haben18

18 Ternes/Täufel/Tunger/Zobel, Lebensmittel – Lexikon, 4. Aufl. 2005, S. 1427ff.

und

bei Neurodermitis helfen.

Unser Unternehmer ist ein vorsichtiger Mensch und er wendet sich deshalb an einen

Anwalt, der ihm kürzlich zu einer finanziell erfolgreichen Scheidung verholfen hat.

Der Anwalt ist begeistert von demVorhaben, zumal er selbst etwas unter Neurodermitis

leidet und das entsprechende Arzneimittel sehr teuer ist, lässt sich von dem

Unternehmer mehrere Packungen des Mittels dedizieren und formuliert die entsprechenden

Auslobungen mit großem Engegament. Die weiteren Ereignisse muss ich in

diesem Kreis nicht darstellen.

Nachdem unser Unternehmer das Bußgeld bezahlt hat,wendet er sich mit seinemVorhaben

an einen empfohlenen Spezialisten, einenWettbewerbsrechtler. Dieser Kollege

empfindet das Lebensmittelrecht als Subkultur, die Figur des Präsentationsarzneimittels

ist ihm aber geläufig. Er empfiehlt dem Unternehmer deshalb eine Meinungsbefragung,

die auch mit einem bescheidenen Aufwand von 20.000 a beauftragt wird.

Das Gutachten zur Meinungsbefragung wird erstellt und dem Unternehmer vorgelegt.

Der ist nun doch etwas verwirrt. Zufällig kommt er bei einer Bahnfahrt mit

einem Reisenden, der sich als Richter zu erkennen gibt, ins Gespräch. Er klagt seinem

Gesprächspartner sein Problem und bittet ihn, das Gutachten doch einmal anzusehen.

Der Richter erklärt nach kurzer Einsicht, die Fragestellungen bei der Meinungsbefragung

seien völlig verfehlt und zitiert dazu zahlreiche Leitsätze aus BGH-Entscheidungen.

Er gibt dem Unternehmer aber den verdienstvollen Rat, einen spezialisierten

Lebensmittelrechtler zu befragen.

Jetzt endlich sucht der Unternehmer einen lebensmittelrechtlichen Spezialisten auf.

Der überzeugt ihn, dass die Auslobungen ganz entscheidend zurückgenommen werden

müssen und hält ihm dann einen längerenVortrag zu dem Problem der pharmakologischenWirkungen.

Er zitiert ausführlich einschlägige Entscheidungen, auch die

einschlägige Literatur, erwähnt physiologischeWirkungen, Zirkeldefinitionen, therapeutische

Zwecke, die Bedeutung der Tagesdosis, verwirft die in einem Kommentar

vertretene Bezugnahme auf den Ernährungzweck, versucht den Unterschied zwischen

pharmakologischen Wirkungen und pharmakologischen Eigenschaften zu

erläutern und zitiert dann wieder mit Leidenschaft aus Entscheidungen des EuGH

und den schon dargestellten Entscheidungen des OVG Münster und des OVG Lüneburg.

An dieser Stelle des Dramas will ich aufhören,weil ich, obgleich mit dem Lebensmittelrecht

etwas vertraut, nicht weiß, wie ich dem Unternehmer diese Situation erläu-

tern und noch zu einer rechtlich einwandfreien und wirtschaftlich vertretbaren Entscheidung

verhelfen könnte.

Mein zugegeben etwas übertriebener Fall soll aber auch nur aufzeigen, dass Begriffsklarheit

undWiderspruchsfreiheit nicht nur

– die grundlegenden Kategorien sprachlicher Verständigung und damit rationaler

Rechtsfindung

– und verfassungsrechtliche Gebote

sind, sondern auchVoraussetzung

– für das praktischeVerständnis nicht juristisch geschulter Menschen.

Oder anders ausgedrückt: Kann eineVorschrift des Lebensmittelrechts einem Normbetroffenen

mit gesundem Menschenverstand nicht mehr begreiflich gemacht werden,

dann ist sie auch mit dem verfassungsrechtlichen Anspruch auf Begriffsklarheit

undWiderspruchsfreiheit nicht vereinbar.

Es ist deshalb keinWunder, dass es uns Juristen bei den Defiziten an Begriffsklarheit

undWiderspruchsfreiheit in der Regel nicht möglich ist,Verständnis der Normbetroffenen

für den Sinn lebensmittelrechtlicherVorschriften zu erhalten.

H. Resümee

Ich komme zu einem–vielleicht etwas oberflächlichem und auch persönlichem–Resümee:

Ich meine mit einigem Überblick sagen zu können, dass die Ansprüche an Begriffsklarheit

undWiderspruchsfreiheit lebensmittelrechtlicherVorschriften und dieWirklichkeit,

das heißt die Erfüllung dieser Ansprüche, im Laufe der letzten 40 Jahre, die

ich überblicken kann, immer weiter auseinander gelaufen sind. Entscheidend war

dafür aus meiner Sicht vor allem, dass das Lebensmittelrecht zum Spielball eigensüchtiger

politischer Absichten sowie echter und aufgeputschter Lebensmittelskandale

geworden ist. Hinzu kommt das Gemeinschaftsrecht, das selbstverständlich in

gleicherWeise politisch geprägt ist, vielfach aber auch durch politische Kompromisse

über die Notwendigkeit begrifflicher Klarheit und Widerspruchsfreiheit hinweg

schwebt, sich darüber hinaus aber offenbar in einem Rausch der Produktion detaillierter

Vorschriften befindet und schließlich mit Übersetzungsfehlern noch ein Sahnehäubchen

aufsetzt. Der deutsche Gesetz- undVerordnungsgeber hat aber zu dieser

Entwicklung gleichfalls beigetragen.

Sie mögen diese Einschätzung vielleicht auf eine nostalgischer Verklärung eines

guten alten Lebensmittelrechts zurückführen. Ich halte dem einen Satz entgegen, für

den ich üblicherweise höhnisches Gelächter ernte. Er lautet:

Recht ist eine Steigerung des gesunden Menschenverstandes, sowohl nach seinem

soziologischen Anspruch als auch nach seiner rechtswissenschaftlichen Funktion.

Eine Steigerung deshalb, weil neben den für den Einzelfall maßgebenden Kriterien

auch übergeordnete Kriterien aus dem Gebot der Gerechtigkeit und Rechtssicherheit

erfüllt sein müssen.

Das ändert aber nichts daran, dass Recht unter ständiger, durch den beratenden

Juristen vermittelter Kontrolle des gesunden Menschenverstandes stehen muss.

Dies gilt in besonderem Maße für das Lebensmittelrecht, weil es sich auf das Grundbedürfnis

menschlichen Lebens bezieht.

Ich hoffe aufgezeigt zu haben, dass Begriffsklarheit und Widerspruchsfreiheit hierbei

unerlässliche Maßstäbe sind.

Summary

The author explains the importance of clarity and consistency of legal terms in particular

with regard to food law. EC Regulation 178/2002 does not contribute to the

clarity of food law. But the German statutory law is not better in particular since it

refers to terms defined in the European law but adds German terms to them. That

explains the difficulties of the courts in applying the provision in the German law

that regards certain substances added for nutritional purposes to foodstuffs as

equivalent to food additives that are defined in a European directive. Furthermore the

delimitation of foodstuffs on the one hand and drugs on the other hand is a classical

example of the difficulties arising from incoherent and inconsistent definitions in

food and drug law.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

    

Rechtsanwalt Kurt-Dietrich Rathke

Veröffentlichungen, Vorträge, Anmerkungen

Anspruch und Wirklichkeit rechtsstaatlicher Begriffsklarheit...

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